Sonntag, 24. April 2016

Das schale Zwischen-zeit-gefühl



Es war Nachmittag und Gunnar war noch immer nicht zurück. Hatte sich gleichwohl NICHT gemeldet.
Derek war nur in zeitlich begrenzten Abschnitten bei mir. In den an Anderen stählte er seinen body und war bei seinen Eltern. Die Mahlzeiten nahmen wir selbstverständlich gemeinsam ein und jedes Mal fragte er, ob Gunnar noch nicht zurückgekommen sein. Des Weiteren sprachen wir über seine Eltern. In diesem Zusammenhang fragte er mich, ob ich nicht einmal wieder mit zu seiner Mutter kommen würde.
„Zu deiner Mutter vielleicht. Deinen Vater jedoch, gedenke ich mich nicht auszusetzen.“
Er kratzte sich am Kopf und ich dachte es sei wegen mir. Jedoch war es doch eher wegen seinem Vater.
„Meine Mutter bat mich auch schon ihm zu sagen, dass er gehen soll.“
„Und warum tut er es nicht?“
„Er gibt an, dass er nicht ausschließlich ihretwegen hier ist, sondern ebenso seinen Sohn sehen wolle.“
„Was ist mit seiner japanischen Frau? Holt er sie her? Oder doch eher nicht?“
„Er arbeitet nach wie vor daran. Ich hatte bereits versucht, es ihm auszureden, auf DIE ART, welche du mir geraten hast.“
„Und?“
„Er hat mir nicht einmal zugehört. Ist meine Bemerkung diesbezüglich einfach übergangen. Als hätte er sie nicht gehört. Aber Naoko scheint nicht wirklich hier her kommen zu wollen. DAS ist das Gute daran. Bisher hat sie sich geweigert nach Schweden zu kommen.“ Derek blieb trotz alldem ernst und greuselte die Stirn. „ Nicht dass ich sie hier nicht haben wollte. Nein. Aber meine Mutter würde das nicht verkraften.“
Ich gedachte nicht weiter nachzufragen. Jedoch beschlich mich der Verdacht, dass sein Vater ein ziemlicher Egozentriker war.

Zu einem späteren Zeitpunkt kamen wir auf Kevin zu sprechen. Selbstredend war es Derek NICHT entgangen, dass ich zuweilen mit ihm flirtete.
„Du liebst ihn noch immer. Oder?“
„Nun ja, mag sein ein wenig.“ Ich kürzte hier meine Antwort ab und versuchte auf ein anderes Thema abzulenken. Derek hatte jedoch erst begonnen. Und es war nicht nur die persönliche Komponente. Nein. Letztendlich fragte er direkt, warum ich ihn in die Position des Leiters erhoben und IHN, Derek degradieret hätte. Ein Hauch von rassistischen Anschuldigungen schwang klang ebenso mit an. Was ich vehement verneinte. Und hier führte ich als Beweis meine Halbschwester Marie ins Feld, welche nun eine ähnliche Hautfarbe wie Derek hatte.
Er ließ nicht nach immer weiter in unterschiedlichen Varianten die gleiche Frage zu stellen. Warum ich Kevin an die Spitze des Unternehmens gestellt und nicht ihn dort gelassen hätte.
„War ich nicht gut genug in meinem Job?“, fragte er dann.
Ich schnaufte. Wandt mich wie ein Aal, bis mir plötzlich und glücklicher Weise die plausibelste und einleuchtenste Antwort einfiel, auf welche er mich nicht mehr der verschiedenster Vergehen gegen ihn verdächtigen konnte. 
Zum Auftakt schnaufte ich ein wenig, um meiner nachfolgenden Antwort das angemessene Gewicht zu verleihen.
„Hast du vielleicht schon einmal daran gedacht, dass ich mich noch immer schuldig daran fühle, dass Kevin in diesem Stuhl sitzt?“
Ich hatte es gewusst. Diese Antwort zündete. Stille. Derek war im wahrsten Sinne des Wortes der Mund offen stehen geblieben.
Einigen Sekunden später entschuldigte er sich bei mir. „Daran hatte ich nicht gedacht. Deshalb also.“ Er nickte und sein Gesicht nahm eine nachdenkliche Mimik an. „Du möchtest, dass er sich gebraucht und besser fühlt? Gibst ihm dadurch einen Sinn im Leben.“
„Ich sagte doch. Es ändert sich nichts für dich. Und Kevin tut es gut.“
Wie hätte ich ihm auch sagen können, dass er als Deutscher und ein guter Freund für mich viel verlässlicher war als er? Es hätte Derek verletzt und unser ohnehin bereits angespanntes Verhältnis zusätzlich belastet.
Und hier greift meine These, dass die Wahrheit nicht immer angebracht ist.

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Am Nachmittag kam Marie mit den Kindern und fand mich mit Derek vor.
„Ich dachte Gunnar sei hier.“
„Nein. Er hat sich auch noch nicht gemeldet. Ich weiß nicht ob er heute kommt. Allerdings vermute ich es schon.“
Sie blieb eine Weile und wir redeten miteinander. Hauptsächlich über die bevorstehende Festlichkeit. Auch Derek beteiligte sich daran. Obgleich die Kinder anscheinend an ihm einen Narren gefressen haben. Sie mögen ihn.

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Oh! Erwähnte ich schon, dass Giselle im Restaurant an unseren Tisch heran trat und mit Derek heftigst flirtete?
Woraufhin ich sie, im offiziellen Rahmen bat, unseren Tisch zu verlassen, wenn nichts weiter Wichtiges anliegen würde, was sie ihm zu sagen hatte.
Derek äußerte sich nicht dazu. Sie ging.

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Als Derek gegen sechs noch einmal bei seiner Mutter und Marie bereits gegangen war, kam Gunnar zurück. Ich hatte ihn, genau genommen, nicht mehr erwartet. Hatte mich gefühlt auf Derek eingestellt. Aber egal. Mein Ehemann war mir in jedem Fall lieber. Am besten ohne Alkohol.
Erklärungen gab es keine. Zumindest vorerst nicht.
Er verhielt sich wie immer. Zärtlich, liebevoll und aufmerksam. Küsste mich und fragte, ob wie essen gehen wollten. Es wäre Zeit dafür. Gerade so, als sei er vom Büro nach Hause gekommen und es war nichts weiter passiert.

„Was hat dich so lange davon abgehalten zu mir zurück zu kommen?“, konnte ich mir schließlich, nach einer Weile, die Frage nicht verkneifen.
Er lachte. „Ich dachte schon, du fragst nie?“ Noch ein kurzes Schnaufen und dann kam die simpelste Erklärung, welche ich mir gleichwohl hätte selbst geben können.
„Meine Brüder und Alexa.“
Ich sah Gunnar ein wenig grimmig an. Denn ich hatte mehr erwartet als diese vier Worte.
„Was würdest du denn hören wollen? Es ist die Wahrheit und es war, wie so oft. Das Eine hetzte das andere. Deshalb komme ich heute so spät zurück.“
„Was ist das EINE und was das ANDERE?“, ließ ich mich nicht mit Lappalien abspeisen und Gunnar antwortete.
„Alexa moniert, das ich zu wenig bei ihr bin. Und meine Brüder sind am Wochenende immer zusammen unterwegs und hoffen, dass ich sie begleite.“
„War Alexa dabei?“
„Nein. Sie hatte keine Lust. Scheint wohl wieder schwanger zu sein.“
Nun blieb mit doch glatt die Luft weg. Mit stockte mit einem Mal der Atem. „Was?“, quälte ich mir die Töne zu diesem einen Wort heraus. Was mir Schwierigkeiten bereitete.
Ich schluckte. Gunnar sah wie irritiert ich war.
„Was hast du erwartet? Sie sagte dir doch, dass sie ein Kind von mir möchte. Und wenn man miteinander schläft, kann das dann eben auch passieren.“
Oho! Wow! An diesen Gedanken musste ich mich nun erst wieder gewöhnen. Ich hatte gehofft, dass genau DAS NICHT (noch einmal!) geschieht!
„Und das sagst du mir einfach so nebenher?“, fragte ich dann die schon längst fällige Frage, als ich meine Stimme wieder fand.
„Wie hätte ich es dir sonst sagen sollen? Beim essen?“ Er lachte. Suchte die Situation zu verharmlosen. Ins Lächerliche zu ziehen. „Stell dir das mal vor. Dir hätte es doch glatt den Appetit verschlagen.“
„Jetzt werde nicht sarkastisch! Ohnehin könnte es mir nichts schaden, wenn ich weniger zu mir nähme. Ich habe ganze zwei Kilo zugenommen. Stell Dir DAS einmal vor!“
„Meinst du nicht, es liegt auch am Cortison. Du weißt, in welcher Verfassung du vom Hospital zurückgekommen bist. Womöglich ist das Wasser, was sich eingelagert hat, noch nicht vollständig wieder verschwunden.“, wendete er sich nun voller Inbrunst dieser Thematik zu und mir wähnte, er war froh darüber, die Diskussion über Alexa fallen lassen zu können.
Hier war sicherlich noch NICHT das letzte Wort gesprochen. Aber WAS hätte ICH schon gegen ihre erneute Schwangerschaft tun können? Hoffen, dass sie es wieder verliert?
Den gesamten Abend hing dieses Thema in meinem Kopf. Klammerte sich an jeden Gedanken. Ließ mir keine Ruhe.
Und nach diesen drei Tagen von Gunnars Abwesenheit und Alexas Schwangerschaft  war es wohl unnötig, Gunnar zu fragen: „Gefickt?“

Derek hatte Gunnars Wagen stehen sehen und rief mich kurz noch einmal an, um sicher zu gehen, dass es besser jetzt nicht mehr zu mir kommen sollte.
„Tut mir leid.“, entschuldigte ich mich mit trauriger Stimme, die schon ein wenig der Wahrheit entsprach. Obgleich ich ebenso glücklich darüber war, dass Gunnar zurückgekommen war.
„Nun, dann habe ich mehr Zeit für meine Eltern und das Fitnessstudio.“
Wenn es denn die Wahrheit war, was ich bezweifle, fand ich es recht wünschenswert und angenehm, dass er es SO sehen konnte.
Gleichwohl MIT IHM, wären die Karten nicht besser gemischt gewesen. Auch ER hatte eine Bekannte, die ein Kind von ihm erwartete.

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Es dauerte eine kurze Weile, bis ich mich wieder an Gunnars Anwesenheit gewöhnte. Und ich erinnerte mich, wie es früher gewesen war, wo ich noch von Mann zu Mann reiste. Es ist mir stets schwer gefallen, mich immer wieder aufs Neue umzustellen. Dieses schale Zwischen-zeit-gefühl war mir stets unangenehm. Es war immer da gewesen. Es brauchte zumeist einige Stunden, bevor ich mich mit dem anderen Mann wieder vollends wohl zu fühlen vermochte. Obwohl ich jeweils beide Männer liebte. So wie jetzt auch.

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Alexas erneute Schwangerschaft ließ mir keine Ruhe.
„Wie stehst du dazu?“, fragte ich schlicht und einfach aus dem Nichts heraus, als wir am Abend gemeinsam auf der Couch Platz genommen hatten.
„Phhuu!“ Gunnar wirkte ernst. „Was soll ich sagen? Es ist ihr Körper. Wenn sie es möchte, kann ICH nichts daran ändern. Oder ganz und gar etwas dagegen tun.“
„Will sie das Kind VON dir, oder MIT dir?“, was für mich einen erheblichen Unterschied darstellte.
Gunnar stutzte. „Was bedeutet das jetzt?“, fragte er zurück.
„Ach komm’. Du bist doch sonst nicht so naiv.“, sagte ich zu ihm. Ich wusste genau, Gunnar hatte sehr wohl verstanden.
Nun drehte er seinen Kopf zu mir hin und ich sah, wie er seine linke Augenbraue hob. „Marie habe ich doch auch nicht geheiratet. Oder?“
„M-a-r-i-e und ihre Kinder sind etwas ganz anderes!“, wurde ich ein wenig lauter.
„Ja. Zugegeben. Ihre Zeugung hatte einen spirituellen Hintergrund und Charakter.“
„Mit Alexa ist es allerdings nicht so“, warf ich ungeduldig ein. Alldieweil ich sah, wie er schmunzelte. Offensichtlich dachte er an die ungewöhnlichen Umstände der Zeugung von Óðinn Asger und Inula Castanea.
Nun atmete Gunnar einige Male hörbar ein und aus. „Womöglich hofft sie mit einem Kind auf mehr als nur meine gelegentliche Zuneigung.“ Bei diesen Worten schien er nachdenklich zu sein. „Klar ist mir DAS auch schon in den Sinn gekommen. Aber WAS soll ich tun?“ An dieser Stelle hob er die Schultern und breitete die Arme aus.  „Ihr raten, es abzutreiben? Wohl kaum. Ich gab ihr bisher immer wieder ausdrücklich zu verstehen, dass ich dich, Rea, liebe und mich niemals von dir trennen werde. Ich glaube, sie hat es verstanden. Wenn sie trotz alledem noch immer ein Kind VON mir will.....sei es drum. Ich kann es nicht ändern.“
Gunnar hatte Recht. Wir beide konnten nichts an Alexas Entscheidung ändern.

So, nun habe ich zwei Männer, die mit jeweils einer anderen Frau ein Kind bekommen.
In diesem Augenblick fiel mir Kevin ein. Und auch, dass ich erneut zu Alexa Freundschaft heucheln muss, wo keine ist.
Aber wer weiß.......Schließlich ist noch nicht aller Tage Abend. Und gleich wie schlimm es auch noch kommen mag, ICH gedenke mir nicht die zukünftigen Tage und Nächte mit derlei zu beschweren.

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Trotz aller guten Vorsätze, nicht weiter darüber nachzudenken, vermochte ich nicht  zu schlafen. In meinem Kopf kreisten die Gedanken um Alexas Schwangerschaft.
Gunnar suchte mich zu beruhigen.
„Mach’ dir doch bitte nicht so viele Sorgen. Er ist noch nicht einmal sicher, dass sie tatsächlich schwanger ist.“
„Hat sie es denn nicht getestet?“, fragte ich ihn.
„Nein. Davon sage sie nichts.“
Ich empörte mich. „Wie kommt sie dann darauf, dass sie schwanger ist?“
„Ihre Regel sei überfällig. Sagte sie mir mit einem breiten Lächeln. Was ich dahin gehend deutete, dass sie wieder schwanger ist.“
„Nur DAS hat sie dir gesagt?“
„Ja.“
„Und du glaubst daran, dass sie schwanger ist?“
„Ja.“
„Sprachst du deine Vermutung ihr gegenüber aus?“
„Ja.“
„Und was hat sie dir geantwortet?“
„Dass sie glücklich darüber wäre, wenn es so ist.“
„Also ist es bei Weitem noch nicht sicher?“
„Nein.“
Wieso hatte er es dann in unserem Gespräch erwähnt?
„Entschuldige.“, sagte Gunnar, der in meinem Kopf gestöbert und gelesen hatte, was ich dachte. „Es ist mir nur so raus gerutscht. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Oder besser, ich ließ meinen Gedanken und Vermutungen freien Lauf in deiner Gegenwart. Hätte ich DAS nicht tun sollten?“
„Doch. Verzeih!“, ruderte ich zurück. „Du hast selbstverständlich Recht. Ich war nur so entsetzt darüber.“
Gunnar schmunzelte. Legte den Arm unter meinem Kopf, drückte mich fest an sich heran und küsste meine Schläfe.
„Ist doch alles halb so schlimm. Selbst WENN es wieder so wäre. Es ändert sich zwischen uns doch nichts. Wir bleiben Frau und Mann.“ Kannte ich diesen einen Satz nicht irgendwoher? Hatte ich ihn nicht selbst erst vor kurzem Derek entgegen gebracht (um ihn zu beruhigen)? Wusste Gunnar womöglich mehr als er mir sagte? War die Abmilderung seiner Worte vielleicht ausschließlich zu meiner Beruhigung gedacht?
Nein! Gunnar sagte mir stets DAS was er wirklich fühlte und dachte. Ich glaubte ihm.

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Heute Morgen ausschlafen und Sex. Und keine weiteren Debatten über Alexa und ihre eventuelle Schwangerschaft..
Ich monierte ausschließlich noch, dass er seit Donnerstag fort gewesen wäre. Gute zweieinhalb Tage. Er rechtfertigte es mit seinen Brüdern und vor allem auch Alexa, die er nach wie vor noch immer liebe. Nur eben auf eine ganz andere Art und Weise als mich. Mit mir sei es viel intensiver und gehe tiefer als mit irgendeiner anderen Frau. Und wieder die Erwähnung der Seelenpartnerschaft. Dass wir schon ewig füreinander bestimmt sind und uns hatten finden müssen. (Ließ sich mit der Seelenpartnerschaft eigentlich alles erklären? Seine immense Liebe zu mir bekräftigen? War es ein „Schlag“-wort, mit welchem man (alle) Zweifel (an seiner grenzenlosen und universalen Liebe zu mir) ausräumen konnte? Oder in der Tat Wahrhaftigkeit?!)
„Daran gibt es nichts zu rütteln. Wir gehören zusammen. Nicht nur in diesem Leben.“, sagte Gunnar mit einem gesetzten, unwiderlegbarem und selbstsicheren, Gesichtsausdruck. Der so viel Gewissheit ausstrahlte, dass ich nicht mehr zu zweifeln wagte.