Mittwoch, 22. Mai 2013

Des Lebens „Lauf“



Während wir erneut vor Kevins Haus wartete, dass seine Frau es verließ, kam es mir in den Sinn Gunnar anzurufen. Ich unternahm zahlreiche Versuche. Er meldete sich jedoch nicht.
Möglicherweise wohnte er der Dienstberatung bei. Oder vielleicht wurde es gestern zu spät und alkoholreich, sodass Gunnar bei Hjalmar nächtigte und noch immer schlief.
Nun gut. Ich werde es später erneut versuchen und ihm höchstwahrscheinlich gleichermaßen famose Neuigkeiten berichten können.  Dachte ich.

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Warten, warten und nochmals warten.
Die Minuten kamen mir wie Stunden vor. Ewigkeiten vergingen nach meinem Ermessen, bevor ENDLICH seine Frau mit einem kleinern weinroten Ford davonfuhr. Wie es schien, ohne das Kind.
Kaum war ihr Wagen außer Sicht, ging ich so unauffällig und ruhig als möglich auf Kevins Haus zu. Öffnete das Tor, lief den Gehweg entlang und dann stand ich vor seiner Tür. Mit einem Herzschlag, der alle Rekorde brach.
Ich klingelte unverzüglich. Gedachte keinerlei Zeit zu verlieren.
Warten.
Dann Geräusche. Eine Stimme. Kevins Stimme. „Verdammt. Wer ist das jetzt.“, hörte ich ihn sagen.
Meine Knie zitterten und am liebsten hätte ich stehenden Fußes gewendet und wäre  davon gerannt. Aber ich blieb und wartete.
Ein lauter Knall, gleich hinter der Tür. „Autsch. Verdammt!“
Der Schüssel drehte sich im Schloss. Die Türklinke bog sich nach unten. Die Tür wurde geöffnet und da war er. Kevin!
Er starrte mich an. Sein Mund stand offen. Stille.
Allmählich begannen sich seine Gesichtzüge zu einem Grinsen zu formen. „Du?“
„Ja. Ich.“
„Ähhh. Komm doch rein.“, Er wendete den Rollstuhl, fuhr vor mir her und ich  folgte ihm.
„Du kennst dich hier sicher noch aus. Oder?“ Er dreht den Kopf und lächelte. „Warte kurz. Ich muss nach meinem Sohn sehen. Er ist wie sein Vater. Ein Hans Dampf in allen Gassen.“
Ich stand da wie angewurzelt. Konnte nicht glauben dass ich mit Kevin, meinem tot geglaubten und bildschönen Kevin redete. Nun, bisher hatte ich zwar noch kein einziges Wort gesprochen. Aber er.
Zwei, drei Minuten vergingen. Dann kam, rollte er zurück und platzierte seinen Rollstuhl gegenüber von jenem Sessel, an welchen ich mich noch gut erinnern konnte.
„Setz dich doch.“
Ich wusste nicht, sollte ich lachen? Sollte ich weinen. Oder ihm sogleich meine Arme um den Hals schlingen.
Wie ein anständiges Mädchen folgte ich seiner Anweisung, setzte mich ihm gegenüber und starrte ihn an. Und er mich.
Dann lachte er. Hob Schultern und Arme. „Was ist? Unkraut vergeht nicht.“
„Du lebst!“ Die ersten zwei Worte, seitdem ich das Haus betreten hatte, verließen meinen Mund.
„Ja.“
„Erzähle! Was ist passiert? Ich dachte du seiest tot? Glaubte, ICH hätte dich getötet?“
Kevin hob die Augenbrauen und legte die Stirn in Falten. „Ja. Beinahe. Und eigentlich solltest du mich SO nicht sehen.“
„Aber du wirst doch wieder gehen können?“
Er räusperte sich. Wurde ernst. „Man weiß es nicht. Vielleicht.“ Dann wieder ein gekünsteltes Grinsen. „Aber ich übe jeden Tag.“
Aus einer Tasche an seinem Rollstuhl nahm er eine Schachtel Zigaretten und steckte sich eine an.
„Du rauchst?“
„Wieder.“, antwortete er.
„Was ist den nun eigentlich geschehen?“, fragte ich erneut.
Kevin sah ein wenig unruhig auf die Uhr, die an der Wand hing.
„Komme ich etwas Ungelegen? Sollte ich später...“
„Nein.“, schnitt er mir das Wort ab. „Es ist okay. Meine Frau wird nicht lange weg sein. Ich werde mich kurz fassen müssen.“
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und atmete den Rauch ein. Blies ihn aus und begann: „Es brauchte viele Tage, bevor ich nach dem Unfall wieder zu mir kam. Genau genommen war ich tot. Erzählte mir zumindest meine Mutter. Und für dich“, er sah mir mit einem durchdringenden Blick in die Augen,  „sollte ich eigentlich auch tot bleiben. Meine Mutter wollte nicht, dass wir uns wieder sehen. Meiner Frau musste ich versprechen, als ich sie vor einem Monat erneut heiratet, dass ich dich nie wieder kontaktiere, und vor allen, vergessen würde. Sie sagte, es würde ihr als Hochzeitsgeschenk genügen.“
Ich ließ Kevin nicht einen Moment aus den Augen. Mein Mund stand offen und meine Ohren sogen seine Worte auf wie einen Schwamm und es dauerte eine Weile bis ich begriff, dass er die gleiche Frau zum zweiten Mal geheiratet hatte.
„Du hast sie wieder....So schnell?“
„Sie wollte es so. Es war ihre Bedingung. Und ich war froh, dass sie da war. Sich um mich kümmerte. Das ich mein Kind und meine Familie wieder sehen konnte. Dass ich eine Familie hatte, die zu mir hielt. In dieser, meiner Situation lernte ich es zu schätzen, Menschen zu haben, auf die ich mich verlassen kann. Bei denen ich mich geborgen fühle. Die mir in jeder Lage zur Seite stehen. Mir verzeihen. Mir vergeben.“
Ich hörte seine Worte wie durch einen Schleier und die Tränen traten mir in die Augen. Ich begriff, was sie bedeuteten. Für mich und für ihn. Verstand sie jedoch in gleichem Maße. Alldieweil ich wusste, nachvollziehen konnte, wie es sich anfühlt, wenn jemand da war, der einen liebt wie man war. Alle Ecken und Kanten anerkennend und akzeptierend. Vor allem nicht das Weite suchte, sobald es problematisch wurde. Alles DAS kannte ich von Gunnar.
„Was bedeutet das für uns?“, fragte ich leise.
„Das wir uns besser nicht wieder sehen.“
Bei diesem Satz brach ich in mir zusammen. Mein Bauch krampfte. Mein Atem stockte. Ich schluchzte. Weinte.
Mit Tränen gefüllten Augen sah ich, wie Kevin seine Zigarette in einem Aschenbecher ausdrückte und zu mir heran rollte. Er nahm meine Hand. Ich atmete stoßweise und jetzt hielt mich nichts mehr. Ich fiel vor ihm auf die Knie. Legte meinen Kopf auf seinen Schoß und meine Hände krallten sich an seinen Armen fest. „Nein. Nein! Nein!“, wurde ich immer lauter. „Jetzt, wo ich dich endlich wieder fand. Weiß, dass du lebst. Soll ich trotz alledem nicht bei dir sein können?“ Ich sah ihn verständnislos an. „Dann wäre es in der Tat besser gewesen, ich hätte weiterhin an deinen Tod geglaubt.“ Ich schluchzte und weinte in seinen Schoß.
„Warum hast du mich angerufen. Mir die Pakete geschickt?“ Ich hob meinen Kopf und sah ihm in die Augen. „Das warst du doch. Oder?“
„Ja.“, gestand er kleinlaut.
„Warum?“
„Ich wollte nicht, dass du dir ein Leben lang die Schuld an meinem Tod gibst.“
„Und DAS ist alles?“
Nun fasste er mich fest bei den Schultern. „Nein Rea. Das ist NICHT alles. Ich liebe dich und sehnte mich nach dir, und ganz ins Geheim hoffte ich natürlich, dass du kommen und mich suchen würdest.“
Jetzt konnte ICH die Tränen in seinen Augen sehen. „Jetzt bist du hier Rea.“
„Aber es nützt uns nichts.“, bemerkte ich schon beinahe verzweifelt.
„Natürlich tut es das.“
„Was?“ Ich sah ihn fragend an. „Wir sind beide verheiratet mit....“
„Mit einem Partner, der uns über alles lieb. Der für uns da ist. Uns Geborgenheit, Sicherheit und eine Familie gibt. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Gewissheit, dass man nicht allein ist. Gleichgültig was da komme.“, beendete er meinen Satz und ich wusste nicht, was ich dem hätte hinzufügen sollen.
„Erinnerst du dich Rea? EINER liebt immer mehr.“
Mit Tränen in den Augen lachten wir beide.
Ich setzte mich zurück auf den Sessel. Wischte mir die Tränen vom Gesicht und putzte mir die Nase. „Und der andere, lernt lieben.“, sagte ich und verzog ein wenig den Mund.
Kevin konnte ein leises „Ha.“ Nicht unterdrücken. „Hast du Gunnar lieben gelernt?“
Was um der Götter Willen sollte ich jetzt antworten?
Ich musste nichts sagen. Kevin beantwortete seine Frage selbst. „Ja. Hast du. Nicht wahr?“
Ich nickte. „Jedoch, da sind seine Neigungen, die er nicht mehr unterdrücken und denen ich nicht zu folgen vermag.  Er hat sich verändert und tut es noch.“
Kevin schmunzelte. „So ist das. Wir verändern uns alle beständig. Das ist die Kunst in einer Beziehung. Einer Ehe. Miteinander leben zu lernen. Nicht nur einen Tag. Einen Monat. Oder ein Jahr. Nein. Ein Leben lang. Vor allem Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst. Den Partner. Das Kind.“
In meiner Kehle formte sich ein Kloß. Mein Hirn suchte nach Worten, die es nicht fand. Was gab es da noch zu sagen?
Andererseits wollte ich nicht aufstehen. Wollte nicht gehen. JETZT, wo ich ihn endlich wieder fand. Nein!
Verzweiflung breitete sich in meinem Inneren aus. Tausend Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Ich will ihn küssen. Noch einmal. Ihn berühren, und am liebsten noch viel mehr. Waren die Worte die wie ein unaufhörlicher Schwall tosenden Wassers nach vorne preschten und meinen Körper in Bewegung setzten. Ich stürzte in Kevins Arme. Küsste seine Lippen wie in einem Rausch. Meine Hände fanden seinen Schoß. Ich griff zwischen seine Beine. Wollte den Reißverschluss öffnen. Ihm einen blasen. Irgendetwas Intimes tun, nur, um ihm Nahe zu sein. Ihn zu spüren. Zu riechen. Zu schmecken.
Er griff meine Hände mit den Seinen und hielt sie fest. „Nein. Rea. Nein.“, sagte er. „Das geht nicht.“
Ich hob den Kopf und ...“WAS geht nicht?“
„Mein Schwanz Rea. Ich kann nicht.“
Ich sah ihn entsetzt in die Augen. Voller Scham. Biss mir auf die Lippen und erhob mich langsam. „Verzeih.“, sagte ich leise. „Verzeih mir.“
Er fasste mich wieder bei den Händen und zog mich zu sich hinunter. Ich legte meinen Kopf „auf DAS, was NICHT ging“.  Bewegte ihn leicht. Als wolle ich schmusen und schluchzte unmerklich vor mich hin.
Kevin strich sanft mit seiner Hand über meinen Kopf. „Ist schon gut.“
Ruckartig und fast wütend (auf mich selbst) erhob ich meinen Oberkörper. „Nichts ist gut.“, sagte ich trotzig.
„Oh, oh, oh! Nein Rea. Jetzt gib dir nicht die Schuld daran, dass ich nicht mehr ficken kann. Es war meine eigene Dummheit. Ich hätte am Straßenrand halten sollen, als mir das Handy aus der Hand fiel. Aber ich Esel musste danach greifen und Bum! Das war’s.“
Die Uhr schlug fünf.
„Es ist besser du gehst. Meine Frau sollte dich hier nicht sehen.“
Ich rappelte mich hoch. „Ja. Natürlich. Du hast selbstverständlich Recht. Ich...“ In diesem Augenblick hielt ich inne. Sah Kevin noch einmal an. Stürzte  noch einmal in seine Arme. Küsste ihn und rannte weinend aus dem Haus.

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„Wir fliegen.“, sagte ich ohne weitere Erklärung, als ich bei Paul im Wagen angekommen war.
Er stutzte. Sah mich verwundert an und nickte.
„Also nicht wirklich ein Erfolg.“, sagte er nach einer Weile.
Ich antwortete nicht. Er beließ es dabei. Bohrte nicht weiter.
Ich glaube, er hatte meine geröteten, mit Tränen gefüllten Augen gesehen.
Ich schämte mich.
Wie töricht ich doch war. Was hatte ich mir genau genommen dabei gedacht nach Berlin zu fliegen? Ich hätte es besser dabei belassen sollen zu glauben, dass Kevin tot war.

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Am Abend informierte ich Gunnar in einem kurzen Gespräch über die Geschehnisse und, dass ich am Mittwochabend zurück sei.

Jason und Paul bedauern indes einstimmig, dass „die Reise“ zu Ende geht. Sie scheinen es doch viel mehr genossen zu haben.

Nun bleibt noch ein wenig Zeit bis 17.00 Uhr.