Montag, 20. Mai 2013

Kevin lebt!



Es war kurz nach zwei, als sich das Garagentor öffnete und ein großer Wagen auf die Straße fuhr. Bedauerlicherweise musste ich mich abwenden, damit man mich nicht erkennt. Mein ebenso auffällig rotes Haar verbarg ich unter einem Kopftuch.
Paul vermochte die Personen nicht wirklich gut zu erkennen. „Eine blonde Frau am Steuer. Ein Mann daneben. Beide etwa Mitte dreißig.“, sagte er mit einer Professionalität, die mich erstaunte.
Wir folgten dem Wagen.
Die Gegend kam mir bekannt vor. Ich war bereits einmal hier gewesen. Mit Kevin. Seine Eltern wohnten hier.
Der Van stoppte tatsächlich vor dem Haus, welches ich kannte.
Wir hielten ebenfalls. Parkten rechts ein. Beobachteten das Geschehen von weitem.
Die blonde Frau stieg aus. Sie war es tatsächlich! Kevins Frau.
Beinahe noch im selben Augenblick öffnete sich die Tür des Hauses und Kevins Mutter lief mit schnellen Schritten die Gehwegplatten entlang zur Straße. Sie ging zum Wagen und nahm das Kind entgegen. Der Vater blieb an der Tür stehen. Die blonde Frau öffnete das Heck und nahm einen Rollstuhl heraus, welchen sie zur Beifahrertür schob.
Der Vater setzte sich nun ebenfalls hastig in Bewegung. Die Beifahrertür wurde geöffnet und dann, dann endlich sah ich ihn! Kevin!!!
Mein Atem ging immer schneller. Das Herz pochte mir bis zum Hals. Meine Augen füllten sich mit Tränen und meine Hand hielt krampfhaft Pauls Arm und drückte ihn.
„Sehen sie! Sehen sie Paul! Das ist er! Tatsächlich! Das ist Kevin. Er lebt!“

Ich schluchzte. Weinte. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und zu ihm gerannt. Paul hielt mich fest. „Sie müssen sich jetzt beherrschen. Seien sie Vernünftig Rea! Bitte!“
Ein leiser Schrei entfuhr meiner Kehle. Zusammen mit der Erleichterung NICHT Schuld an seinem Tod zu sein.
„Beruhigen sie sich bitte.“, mahnte Paul weiter.

„Was wollen wir jetzt tun?“, fragte er nach einer Weile in ruhigen Ton.
„Was schlagen sie vor?“, fragte ich zurück. Noch immer weinend und schniefend.
Ich hörte, wie Paul tief durchatmete. „Sie wissen jetzt, dass er am Leben ist. Die Schuldfrage ist hiermit geklärt und ihr Gewissen beruhigt.“
Er sah mich an. Wartete einige Sekunden und sprach dann weiter. „Wir können hier und heute nichts mehr ausrichten. Obendrein sind Feiertage. Ich würde vorschlagen frühestens am Dienstagmorgen eine erneute Observation zu starten. Irgendwann muss seine Frau das Haus ohne ihn verlassen und dann können sie es wagen an der Tür zu läuten.“
Ich putzte mir die Nase und stimmte nickend zu.
Wir parkten aus. Wendeten und begaben uns auf den Weg zurück zum Hotel.
Ich begann zu lächeln. Paul sah immer wieder zu mir herüber. Schien ebenso glücklich darüber zu sein und lächelte ebenfalls.
Freude stieg in mir auf. Ein innerer Quell der Glückseligkeit ergriff mich.
Ich lachte. Lachte und lachte!
Kevin! Mein bildschöner Kevin. Er lebt!

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Noch während der Fahrt hatte Paul Jason kontaktiert und suchte mir nun dessen Beobachtungsergebnisse zu vermitteln. Um gegebenenfalls den restlichen Nachmittag zu nutzen.
„Er hat bisher niemanden gesehen, der auf die Beschreibung passt.“
Pauls Worte drangen nur langsam in mein Hirn, dass angefüllt war mit unbändiger Freude.
„Halten sie an! Fahren sie rechts ran!“, befahl ich.
Paul stutzte, und folgte.
„Was ist?“
„Fahren sie mich zu Jason.“

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Wir hielten an einer Tankstelle und Paul besorgte uns eine Currywurst, während ich den Restroom aufsuchte.
Es dauerte etwa eine gute Stunde, bis wir bei Jason angekommen waren. Wir lösten ihn ab und er fuhr zurück zum Hotel, wo er sich noch bis zum Abend ausruhen konnte.
Nun saßen wir erneut in einem Wagen vor einem Haus und beobachteten die Menschen, haltende Autos, Taxis und die Fenster der Wohnung.
Die Geschehnisse des Tages waren überaus aufregend und gleichwohl anstrengend gewesen. Ich war erschöpft. Döste vor mich hin. Bemerkte nicht, wie ich einschlief.
Das Klingeln meines iPhons ließ mich hochschrecken. Es war Gunnar und ich erzählte ihm von der spektakulären Neuigkeit, dass Kevin am Leben war und ich eine Möglichkeit finden musste, um mit ihm allein zu sprechen. Aus diesem Grund würden wir noch eine Weile in Berlin bleiben. Und als wäre er in diesem Augenblick hier, fragte er nach Ian.
„Nein. Ich sah ihn bislang noch nicht. Jedoch gedachte ich ihm ebenso einen Besuch abzustatten. Wenn ich schon einmal hier bin.“
Gunnar blieb gelassen. Seine Reaktion verwunderte mich erneut.
„Bist du bei Erik“, fragte ich. Alldieweil ich im Hintergrund Stimmen zu hören glaubte und dachte, es sei vielleicht Mary oder Rodney..
„Nein. In unserem Haus.“, antwortete er.
„Ist jemand bei dir?“
„Ja. Chris, Jonathan und Taylor.“
Nun gut. Das mochte ich ihm glauben. Jedoch waren da ebenso weibliche Stimmen zu hören. Ich fragte indes nicht weiter nach. Beließ es dabei.
Meine Freude über Kevin ließ das Gespräch mit Gunnar nicht ausufern. Zudem beschlich mich das Gefühl, als würde er lieber mit seinen Kumpanen weiter trinken wollen.
„Kommen sie Paul. Wir gehen nach oben.“, sagte ich nach etwa einer halben Stunde, denn ich war des Wartens müde.
„Okay. Wer wird klingeln? Sie oder ich?“
„Ich.“
Paul schmunzelte. „Sind wir jetzt mutig geworden?“
„Nein. Nur müde.“

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Als hätte ich es geahnt. Da war diese Annica. Mit der sich Ian erneut versöhnt hatte. Oder sie mit ihm. Wie auch immer. Sie konnte noch nie ihren Mund halten. Posaunte großmäulig und triumphierend heraus, dass sie heiraten wollten. Später vielleicht eine künstliche Befruchtung. Ein Kind. Eine Familie.
Ian war kleinlaut. Geradezu fügsam. Wie hatte sie das nur zustande gebracht? Ich konnte es mir nur mit einem „schlechten Gewissen“ erklären. Mit „Schuld“, welche sie ihm einredete. Sie scheint eine gute Diplomatin in eigener Sache zu sein. Hat ihn vielleicht sogar in der Hand.
Ian. Er war schon immer ein „ungezogener Bengel“, wenn es um Frauen und Alkohol ging.
Gleichgültig. (Redete ich mir ein mit der geheimen Hoffung, dass ihre Macht über ihn alsbald schwinden würde.)
Kevin war am Leben. DAS ist das Wichtigste!

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Sobald ich am Abend ein wenig zur Ruhe gekommen war, hatte ich den Wunsch Gunnars Stimme zu hören. Ich sehnte mich nach ihm. Kaum zu glauben angesichts der Ereignisse. Oder doch?
Dieses Mal war ICH diejenige, die fort gegangen war.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er abnahm.
„Schsch.“, hörte ich und Gekicher. Ich WOLLTE darauf nicht weiter eingehen. Erwähnte es nicht in unserer weiteren Unterhaltung. Fragte nicht nach.
Gunnar schien mir ein wenig außer Atem.
„Ich war unter der Dusche. Verzeih.“, sagte er, und mich beschlich die Vermutung, er wusste genau was ich dachte.
„Erzähl mir, was im Zentrum so passiert. Belangloses. Gewichtiges. Geheimnisvolles. Schmutziges. Klatsch und Tratsch.“
Gunnar lachte.
Ich legte die Beine auf den Tisch. Paul sah mich an und grinste. Ich grinste zurück.
„Nun. Es tut sich Einiges hier.“, hörte ich Gunnar sagen. Ich war neugierig geworden.
„Es gab ein Treffen mit unseren Feinden.“ Er betonte das letzte Wort mit einer überheblichen Nuance.
Ich nahm es nicht weiter ernst. „Welche denn?“, fragte ich beinahe gelangweilt.
„Die Kriminellen, wie du sie nennst. Sowie die Glaubens-Fanatiker.“
„Ach was? Und?“, fragte ich und ich wähnte mich eher in einem Spiel der Wörter als der Ereignisse.
„Wir kamen zu einer Einigung.“
„Einigung?“, fragte ich verwundert.
„Ja. Wir müssen jetzt nichts mehr von ihnen befürchten.“
Ich war erstaunt. Wusste nicht, was ich antworten sollte. Fragte nicht weiter nach.
„Gut. Du wirst schon das Richtige tun. Ich vertraue dir da voll und ganz.“
Gunnar erzählte mir noch vom üblichen Tratsch der Angestellten. Das man ihm ein Verhältnis mit seiner Physiotherapeutin nachsagte.  Mir natürlich ähnliches mit Troels. Am liebsten hätte ich gefragt, wo er ist. Stattdessen fragte ich nach dieser Elena.
„Ich habe sie frei gekauft. Könnte man sagen. In sie investiert. Bin zu ihrem Protege´ geworden.“
„Was bedeutet DAS denn jetzt?“
„Sie steht jetzt auf eigenen Beinen. Kann ihre eigenen Entscheidungen treffen und ist von niemandem mehr abhängig. Ich habe dafür gesorgt, dass sie einen Beruf lernen kann. Werde ihr ein Zimmer in Stockholm besorgen.“, berichtete er beinahe euphorisch.
Was im Grunde nichts anderes bedeutete, als dass Gunnar nun ihr „Gönner“ (von welchen sie abhängig) war. Sie sich nicht mehr prostituieren musste. Sie ihm ewig dankbar und zu Willen sein würde, und er sie jedes Mal ficken kann, wenn er nach Stockholm fährt.
So viel zur unterschiedlichen Bedeutung der Worte!

Dieses Gespräch mit Gunnar stimmte mich überaus nachdenklich!
Nun gut. Ich will ihm das „Vergnügen des Wohltäters“ nicht missgönnen, und ihr nicht die Freude an einer „selbst bestimmten Zukunft“.

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Es gab keine Veranlassung am heutigen Morgen früh aufzustehen.
Merkwürdigerweise träumte ich NICHT von Kevin. Sondern von Katastrophen und Erdbeben. Wie die Erde sich neben mir öffnete, während ich mit einem Zug nebenher fuhr. Da brach alles um mich herum zusammen. Ein schieres Wunder, dass ich nicht mit in das innere der Erde stürzte.
Die Welt ist zu Weilen ein so unwirklich und faszinierend Ort zugleich.
Es passieren so viele Dinge gleichzeitig. Oder auch gar nichts.
Zumindest aus der eigenen Wahrnehmung heraus.

Jason und Paul . Keiner der beiden verlor die Beherrschung. Obgleich es ihnen doch überaus schwer zu fallen schien.
Was tun wir nun, mit dem heutigen Tag des Wartens?