Mittwoch, 7. Mai 2014

Jeder trauert auf seine Weise



Kevin trauert in der Tat auf seine ganz eigene Weise. Er wird noch zum Einsiedler werden. Bis auf seinen Pfleger natürlich. Welchen er nun dringlichst benötigt im alltäglichen Leben.
Die vergangenen Tage, kein sterbens Wörtchen von ihm. Nichts. Kein Verlangen nach menschlicher Gegenwart. Und dann urplötzlich am gestrigen Abend kam er ohne Worte zur Tür herein, fuhr in seinem Rollstuhl auf Gunnar zu, sah ihm in die Augen und sagt: „Ich will Rea.“
Gunnar schien zur Gänze perplex. Vermochte im ersten Augenblick nichts zu sagen. Besann sich aber dann und stotterte: „Wie meinst du das?“
„Ich will, dass es wird wie früher.“
Nun schaute ich genauso verdutz drein.
„Wie früher?“
„Ich will ihr zweiter Mann sein. Neben dir Gunnar.“ Kevin strahlte Gunnar ob seiner Erleuchtung erwartungsvoll an. Hatte er Drogen oder zu viele Medikamente geschluckt? Wie kam er so überraschend auf diesen Gedanken. Nicht, das ich etwas dagegen einzuwenden hätte. Gunnar fickt schließlich ebenso mit mehreren Frauen. Nur Kevin vermag dies so wie so nicht mehr zu tun. Was andererseits für mich unwichtig wäre.
Also, was jetzt?
„Warum fragst du nicht Rea?“, sagte Gunnar schließlich, als er sich gefangen hatte.
Nun kam Kevin auf mich zugerollt. „Willst du?“
„Ähh.“, stammelte ich und sah zu Gunnar. „Soll das jetzt ein Antrag sein?“
„Ja!“
Hüstel. Räusper. „Aber du weißt schon, dass ich bereits verheiratet bin?“
„Ja und?“
„Wie stellst du dir das vor?“, fragte nun Gunnar ein wenig unsicher lächelnd.
„Ich bleibe hier bei euch und bin der offizielle zweite Ehemann von Rea.“ Kevin frohlockte. „Hast du nicht auch noch einige Nebenfrauen?“, richtete er nun das Wort an Gunnar.
„Ja.“, antwortete Gunnar ein wenig betreten und vorsichtig.
„Siehst du, und ich kann nicht mal mehr mit Rea ficken!“ Kevins Stimmung schien nun zu kippen. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde er den Atem anhalten, um nachzudenken, und sein Kopf lag etwas schief. Jedoch im nächsten Moment raste er mit seinem Rollstuhl auf Gunnar zu, der ihn abfing und bremste. Es gab einen Ruck. Kevins Pfleger, der bisher dem Geschehen nur zugesehen hatte, wollte bereits einschreiten. Ließ es jedoch dann.
Nun schlang Kevin schluchzend seine Arme um Gunnars Hals.
Ich war sprachlos. Und Gunnar ebenso.
So ganz allmählich, Stück für Stück, legte auch Gunnar seine Arme um Kevins Schultern und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. So hielten sie sich einige Minuten, bis Kevin sich ruckartig aus Gunnars vager Umklammerung löste und ihn mit roten, verquollenen Augen erwartungsvoll ansah. „Du stimmst zu. Nicht wahr? Das kannst du mir nicht verweigern!“ Mit jedem Wort war Kevins Stimme lauter und vehementer geworden. Nun schien er fast wütend zu sein. Herr Gott noch mal. Was war nur mit ihm geschehen? Wieso nur benahm er sich so bizarr? Ich hatte ihn noch nie so erlebt! Oder doch? Damals in Berlin. Natürlich! Als er mit Wut und scheinbarer Gefühllosigkeit seiner Frau begreiflich zu machen suchte, dass er sie nicht mehr liebe, sondern mich. Als er sie vor meinen Augen vom  Sessel auf den Boden warf. Sie sogar ohrfeigte. Womöglich hatte nun die Trauer seine Gefühle derart aufgewühlt, dass er erneut so kuriose Dinge tat.
„Ich weiß nicht, ob es klug ist in deiner derzeitigen Situation eine rasche, zukunftsweisende Entscheidung zu fällen.“, antwortete Gunnar ausweichend.
„Meinst du etwa, ich sei nicht bei Sinnen? Oder was?“, fragte Kevin ein wenig erbost.
„Nein. Nein.“, wehrte Gunnar sogleich die Anschuldigung ab. „Ich meine, wir sollten uns Zeit lassen und alles ausgiebig miteinander besprechen. Denkst du nicht auch?“
„Ja. Ja. Du hast völlig Recht. Also reden wir.“

Letztendlich gab meine Stimme den entscheidenden Ausschlag, um die endlosen Diskussionen (um den heißen Brei) abzukürzen. Denn irgendwie beschlich mich das Gefühl, als wolle Gunnar eine Entscheidung hinauszögern. Ich sagte dann schließlich „Versuchen wir es.“
Stille.
Die beiden sahen mich an.
„Was?!“ Ich breitete die Arme aus und hob die Schultern.
Kevin grinste. „Gut.“ Er rollte wieder auf mich zu. Küsste mich, und bereits im nächsten Moment war er auf dem Weg nach draußen.
Er hatte Gunnar nicht einmal angesehen, als er an ihm vorüber rollte. Hatte nur in sich hinein gelächelt und sein Pfleger hastete eilig hinter ihm her.
Bum. Schloss sich die Tür. Stille.

Gunnar saß da, spielte mit einer Münze, die er pausenlos durch seine Finger laufen ließ und schien nachzudenken. Räusperte sich nach einer Weile, sah mich an und zog die linke Braue nach oben. „Okay.“, war vorerst alles was er sagte und ich fühlte, dass ihm diese Vorstellung, dass Kevin nun immer bei uns sein würde und dann noch als mein zweiter Mann, nicht wirklich gefiel.
„Was soll schon geschehen?“
„Es wird unsere Ehe beeinträchtigen.“
„Tun das deine anderen Frauen nicht ebenso?“
Gunnar schnaufte. „Ja. Sicher.“
„Meine Antwort gibt ihm Frieden. Zumindest für den Augenblick. Womöglich hat er Morgen eine ganz andere Phase und entscheidet sich um. Und wenn nicht Morgen, dann vielleicht in einiger Zeit.“
„Er hat sich gut überlegt, was er tut.“, warf Gunnar ein.
„Nein. Das schien mir ganz und gar nicht so.“, versuchte ich seine Aussage zu widerlegen.
„Er hatte immerhin eine gute Woche Zeit diese Eingebung auszubrüten und zu kultivieren.“
„Sein Benehmen schien mir skurril. Nicht berechnend.“
„Ja. Mag sein.“
„Aber?“
„Ist es nicht genau DAS, was er schon immer wollte?“
„Was?“, fragte ich Schulter zuckend. „Der zweiter Mann neben dir zu sein? Und ist es nicht bereits demütigend genug, dass er im Rollstuhl sitzt und einen derartigen Vorschlag überhaupt unterbreiten muss? Obendrein, was für ihn womöglich das Schrecklichste sein muss, nicht einmal mehr ficken zu können.“
„Ah. Darum geht es dir.“
„NEIN Gunnar! Genau darum geht es mir nicht! Im Gegensatz zu dir, dreht sich mein Leben nicht nur ums Ficken.“
Gunnar sah mich entrüstet an und schüttelte vehement mit dem Kopf. „Nein Rea. Das ist nicht wahr. Ich lasse mir eine derartige Infamität nicht unterstellen. Du weißt genau, dass ich dich liebe und alles für dich tun würde.“
„Nur bist du gleichwohl ein Mensch, wie du stets betonst, und hast deine Fehler, wie jeder von uns. Bei dir sind sie nur ein wenig ausgeprägter.“
„Nein. ICH BIN NUR EHRLICH, im Gegensatz zu vielen anderen Männern.“
(Womit er vermutlich Recht hatte.)

Nun war aus dem kurzen Besuch von Kevin ein Streit zwischen uns beiden entstanden, den keiner von uns so gewollt hatte.
Ich hielt inne. Sah Gunnar an. Stand auf, ging auf ihn zu und streckte meine Arme nach ihm aus. „Ich will nicht mit dir streiten.“, sagte ich leise und machte dabei einen Schmollmund. Gunnar atmete tief und hörbar....auf. „Ja. Du hast Recht. Lass uns ficken.“, sagte er grinsend, griff nach meiner Hand und zog mich zu sich. Ich ließ mich auf seinen Schoß fallen und wir küssten uns innig.
„Alles ist gut.“, sagte ich die Worte, die genau genommen immer Gunnars waren und lächelte ihn an.
„Wenn du es sagst.“